Was kann und was soll der Lehrplan 21 in der Praxis leisten? Wir* hielten mit Markus Kübler von der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen, einem der Autoren, und Roland Kammer, dem Präsidenten des kantonalen Lehrerverbands, eine kleine Zwischenkonferenz ab.
*Von Ulrich Schweizer, Schaffhauser Nachrichten
Der Lehrplan 21 ist ein viele hundert Seiten starkes Werk – haben Sie ihn ganz gelesen?
Markus Kübler: Ich habe ihn teilweise selbst geschrieben …
Roland Kammer: … und ich kenne jemanden, der daran geschrieben hat (lacht) – und für mich war er sowieso Pflichtlektüre.
Haben Sie sich mit dem Inhalt angefreundet?
Kübler: Der Lehrplan 21 besteht aus verschiedenen Teilen, die unterschiedliche Funktionen haben. Grundsätzlich soll er als Unterrichtsvorbereitungshilfe dienen; man sucht darin Informationen, die man braucht, etwa wie in einem Lexikon. Die Kindergärtnerin muss nicht den Sekundarschulteil lesen, die Lehrperson der Oberstufe nicht mit dem Kindergartenteil anfangen. Neu ist aber, dass eine Kindergärtnerin sehen kann, wie die Bildung weitergehen wird, da gibt es eine Transparenz in der Vertikalen.
Kammer: Tsss, der Ausdruck «anfreunden » wäre mir zu intim. Ich habe ihn mit zwei Herzen gelesen: als Lehrperson und als Vertreter der Lehrpersonen. Was die Textmenge betrifft, frage ich mich: Was machen die Lehrpersonen damit? Wie wird das angeschaut, verarbeitet? Menge kann abschrecken … Wir warten mal ab.
Kübler: Zum Umfang des Lehrplans 21 ist zu sagen: Er widerspiegelt die gesellschaftlichen Ansprüche an die Schule, und die haben in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen, da kann man durchaus von einem Overload sprechen. Und es kommen weitere, detailliertere Ansprüche hinzu. Der Lehrplan 21 spricht zum Beispiel von «religiösen Feiertagen» als Oberbegriff, und schon wird im «Kirchenboten » vom Februar bemängelt, dass «jeglicher Bezug zu Bibel und Christentum » fehle. Wenn wir aber die Religionen und Konfessionen mit ihren Feiertagen einzeln aufzählen, wird der Lehrplan sicher nicht dünner.
Welche Wirkungen wird der Lehrplan 21 in Schulstuben und in der Gesellschaft haben?
Kammer: Genial finde ich die Diskussionen, die daraus entstehen. Er wird kein Erdbeben auslösen, denn weiterhin sind die Lehrpersonen verantwortlich für den Unterricht, doch er bietet eine Grundlage, die man zu Hilfe nehmen kann.
Wird er zum Beispiel die Mobilität der Eltern vergrössern, indem er den Umzug von einem Wohnkanton in einen anderen erleichtert?
Kübler: Wir haben die Kompetenzziele im Lehrplan auf die Lektionenzahl abgestimmt, die dem Mittelwert aller Kantone entspricht. Die Anzahl Lektionen pro Fach schwankt jedoch sehr stark zwischen den Kantonen. Vor allem Kantone mit weniger Lektionen als der Durchschnitt werden Probleme bekommen. Doch man muss das pragmatisch sehen: Gute Lehrpersonen geben auch ohne Lehrplan guten Unterricht … Wenn es um die Mobilität geht, gilt es die Zweisprachigkeit der Kantone Freiburg, Wallis und Bern, die Mehrsprachigkeit des Kantons Graubünden und die Nachbarschaft des Kantons Uri zum Tessin, der Stadt Basel zu Frankreich zu beachten: In all diesen Kantonen wäre es ja unsinnig, Englisch als erste Fremdsprache einzuführen.
Kammer: Die kantonale Schulhoheit wird auch mit dem Lehrplan 21 weiterhin ihre Blüten treiben, und dies nicht unbedingt zugunsten der versprochenen Mobilitätsvereinfachung.
Wie wird sich der Lehrplan 21 in der Praxis bewähren?
Kammer: Wenn aufgrund einer Überarbeitung Akzeptanz erreicht wird, kann er vor allem für jüngere Lehrpersonen und Berufseinsteiger Leitplankenfunktion erhalten. Was unter keinen Umständen passieren darf, ist, dass der Lehrplan 21 von den Behörden als Kontroll-, Regelungs- und Rankingwerkzeug missbraucht wird!
Kübler: Wir haben versucht, die Themen so aufzubereiten, dass sich eine Lernschrittabfolge vom Kindergarten bis in die Sekundarklasse ergibt, die als Unterrichtsvorbereitung im Sinne einer Dienstleistung brauchbar ist. Das war unser Auftrag. In der Wissenschaft ist seit Längerem unbestritten, dass Lehrpläne nur wenig Wirkung auf die Schule und den Unterricht haben, entscheidend sind gute Lehrerinnen und Lehrer.
«The teacher makes the difference» – und wird der Lehrer beziehungsweise die Lehrerin den Lehrplan 21 akzeptieren?
Kübler: Ich kann mir schon ein Szenario vorstellen, wo Akzeptanz seitens der Lehrerschaft aufgebaut werden kann. Man muss ihr Zeit lassen, um damit warm zu werden, es braucht eine subtile Heranführung an das Wesen und Wirken …
Kammer: … das heisst keine Hauruckübung …
Kübler: … denn Reformen am Schulsystem sind immer so etwas wie das Wechseln der Räder am fahrenden Zug. Der Lehrplan 21 ist vertikal aufgebaut, muss aber von den Lehrpersonen der jeweiligen Stufe horizontal gelesen werden.
Können solche Einführungen denn kostenneutral sein?
Kammer: Der Zeitpunkt ist angesichts des Spardrucks ja denkbar ungünstig. Die Aufträge an die Schule nehmen zu, und bei knapperen Ressourcen kommen immer wieder Kürzungsübungen. Notwendig wäre ein gesellschaftlicher Diskurs: Wo will man trotz Spardruck investieren, wo Prioritäten setzen.
Kübler: Es ist schade – aber auch verständlich –, dass in den Sparrunden der Politik «Management by Rasenmäher» betrieben wird. Denn der Kanton Schaffhausen hat laut Bundesamt für Statistik bei der Bildung die dritttiefsten Kosten aller Kantone. Wir geben bei uns weniger als halb so viel wie der Kanton Basel-Stadt für Bildung aus! Demgegenüber sind wir bei den allgemeinen Verwaltungskosten und der Sicherheit bei den teuren Kantonen.
Kammer: Was die Lehrerschaft sich wünscht, ist Verlässlichkeit, nicht nur in Bezug auf die Löhne, und Rückendeckung, was den Stellenwert der Bildung betrifft – nicht nur verbal, sondern auch mit Taten.
Kübler: Wir brauchen Planungssicherheit, denn die Schule ist als System ein Ozeandampfer – mit kilometerlangen Reaktionswegen. Laut Bundesamt für Statistik sind wir im Kanton Schaffhausen, was die Bildung betrifft, im schweizerischen Vergleich günstig, deshalb gibt es gar keinen zwingenden Grund für Sparübungen – die Lehrerlöhne sind ja schon ennet dem Rhein deutlich höher.
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